Malerisch erschloss Elfriede Lohse-Wächtler sich die neue Umgebung vor allem in Aquarell und Pastell. Im März 1927 gelang ihr der erste Verkauf eines Werkes an eine öffentliche Sammlung, was sie auf weitere Absatzmöglichkeiten hoffen ließ. Daher blieb sie in Hamburg, obwohl sie sich zu jener Zeit endgültig von Kurt Lohse trennte. Neben einzelnen Bildverkäufen versuchte sie vor allem mit Illustrationen und kunstgewerblichen Arbeiten ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Doch ihr fehlte das Netzwerk und die Anerkennung, die sie sich in Dresden erarbeitet hatte. Über den Bund Hamburgischer Künstlerinnen und Kunstfreundinnen – der späteren GEDOK – und über die Hamburgische Sezession bemühte sich die Künstlerin um Kontakte und Ausstellungsmöglichkeiten. Einen Freundes- und Kollegenkreis wie zuvor in Dresden fand sie in Hamburg jedoch nicht.
Aus der Zeit von 1925 bis 1928 sind bisher nur wenige Arbeiten bekannt. Unter mehreren eher schlichten Aquarellen mit Hamburger Motiven sind zwei in naiv-neusachlicher Malweise erhalten – ein Stil, den Elfriede Lohse-Wächtler nicht weiterverfolgte. In dem Porträt von
Fräulein H.A.
(1928)
zeigt sich ihre zeichnerische Genauigkeit und Könnerschaft, die auch ihr Spätwerk auszeichnet.
Trotz Beteiligungen an einigen Ausstellungen im Jahr 1928 geriet die Künstlerin wirtschaftlich und auch psychisch immer mehr in Bedrängnis. Ihr Bruder Hubert Wächtler und Johannes A. Baader, ein Freund aus der Dresdner Zeit, sahen sich daher Anfang 1929 gezwungen, Elfriede Lohse-Wächtler in die Psychiatrische Abteilung der Staatskrankenanstalt Hamburg- Friedrichsberg einweisen zu lassen. Während des mehrwöchigen Aufenthaltes entstand die bedeutende, rund 60 Blätter umfassende Werkgruppe der sogenannten "Friedrichsberger Köpfe". Dabei handelt es sich vor allem um Porträts und Studien von Mitpatienten und Klinikpersonal sowie um Darstellungen aus dem Klinikalltag. Weiblicher Kopf (um 1929)
Ab Mai 1929 bescherten die in der Klinik entstandenen Arbeiten der einige Wochen zuvor entlassenen Künstlerin mehrere Ausstellungen, positive Kritiken und die Anerkennung von Hamburger Kollegen und Kolleginnen. In der nun folgenden produktiven Zeit fand Elfriede Lohse-Wächtler zu ihrem eigenen, unverwechselbaren Stil. Trotz einiger Verkäufe blieb die finanzielle Lage angespannt. Immer häufiger suchte sie Zuflucht vor ihrer anhaltenden wirtschaftlichen Not im Hamburger Nachtleben. Inspiriert von der Vielfalt an unterschiedlichen Menschen, betrieb die Künstlerin eine Art malerische Feldforschung in den Bars, Kneipen und Bordellen. Die daraus entstandenen Werke unterscheiden sich deutlich von den Milieudarstellungen ihrer männlichen Künstlerkollegen.
Das Vergnügen von St. Pauli (1930)
Und auch die wenigen weiblichen Künstlerinnen, die sich zu jener Zeit in diese Männerdomäne vorwagten – wie beispielsweise Jeanne Mammen oder Elsa Haensgen-Dingkuhn – tauchten nicht derart tief ein. Die expressiven, mutigen Pastelle, Aquarelle und Zeichnungen zeigen den Alltag im Bordell hinter den Kulissen – vom geschäftsmäßigen „Smalltalk“ über den schönen Schein der Show bis hin zu den regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen, denen sich die Frauen unterziehen mussten. Zur Untersuchung (1930)
Daneben malte Elfriede Lohse-Wächtler in dieser Zeit zahlreiche atmosphärische Ansichten von Hamburg. Obgleich zeitgenössische Ausstellungskritiken Ölgemälde erwähnen, sind auch von diesen Darstellungen vor allem Arbeiten auf Papier erhalten geblieben. Der Köhlbrand (1930)
Parallel zu den Hamburger Ansichten und den Milieustudien schuf Elfriede Lohse-Wächtler von 1929 bis 1931 eine Reihe einzigartiger Selbstbildnisse. Sie schlüpfte in verschiedene Rollen und nutzte das Medium, um sich selbst zu befragen oder auch, um sich ihrer selbst zu vergewissern: Als (neue) Frau, als Künstlerin, in Zuständen von Unsicherheit und fehlender Kreativität, mit wirrem Haar, als Trinkerin und Raucherin oder mit „freundlicher Grimasse“. Elfriede Lohse-Wächtler nutzte ihre Bilder wie einen Spiegel, wobei der bzw. die Betrachtende eine wichtige Funktion einnimmt. 1930 zeigte sie sich nach heutigem Kenntnisstand als eine der ersten Künstlerinnen der europäischen Kunstgeschichte mutig als Selbstakt. Wenig später ging sie mit einigen Selbstakten im Beisein eines männlichen Partners sogar noch einen Schritt weiter. Die Absinth-Trinkerin (1930)
Eine weitere bedeutende Werkgruppe aus dieser Zeit bilden Porträts von Menschen, denen Elfriede Lohse-Wächtler in ihrem Alltag begegnete. Mit expressiven, gezielt eingesetzten Farben, Linien und Schraffuren fing die Künstlerin gekonnt die Persönlichkeit, die individuellen Eigenschaften und den Ausdruck ihres Gegenübers ein – mitfühlend, nie wertend. Häufig konzentrierte sie sich dabei auf den Kopf, das Gesicht, die Hände und einzelne Attribute, während Teile der Darstellungen lediglich angedeutet bleiben. Die Blumenalte (1931)
Nicht selten fanden Elfriede Lohse-Wächtlers eigene Erfahrungen, Erlebnisse und Gefühle Eingang in die Bildnisse. Vermehrt ab 1931 entstanden Werke, in denen sie ihre Ängste mit Hilfe von Darstellungen ausdrückte, die Menschen oder menschenähnliche Wesen zeigen. Diese scheinen verfolgt, verleumdet, bedroht und flehen um Hilfe. Ihre Körper sind dabei manchmal unnatürlich verrenkt und in einem Geflecht aus Gliedmaßen, Gesichtern und anderen Objekten verwoben. In steigendem Maße belasteten Elfriede Lohse-Wächtler ihre existenzbedrohende wirtschaftliche Lage sowie die fehlende Anerkennung als Person, als Frau und Partnerin. Der Anfall (1931)